Die verlorene Zeit

Der Anfang der Geschichte von Astrid Nagel

Wütend stapfte Mike über den aufgeweichten Waldpfad.
"Wäre ich nur nicht mitgekommen", brummte er mürrisch. "Eine Schnitzeljagd im Wald bei diesem Sauwetter! Auf so eine blödsinnige Idee könnt auch nur ihr kommen."
Sein vernichtender Blick richtete sich auf Chris und Babs, die Mühe hatten, ihrem Freund zu folgen. Der schmale Weg, auf dem sie sich mühsam vorwärts quälten, wurde immer glitschiger. Inzwischen waren die drei bis auf die Knochen durchnässt, doch der Dauerregen wollte einfach nicht nachlassen.
"Der Rest der Klasse fand die Idee toll", unterbrach Chris das Gemecker seines Freundes. "Und wenn du uns nicht beim letzten Hinweis gezwungen hättest, die falsche Richtung zu wählen, wären wir schon längst am Ziel."
"Wenn unser Herr Professor mal wieder alles besser weiß, kann er gerne die Führung übernehmen", giftete Mike zurück.
"Hört endlich auf", unterbrach Babs ihre beiden Freunde ungeduldig. "Streiten hilft uns jetzt ganz bestimmt nicht weiter. Sehen wir lieber zu, dass wir die nächste Markierung finden."
Mit gesenkten Köpfen stapften die drei Freunde weiter durch den vor Nässe triefenden Wald, als ihr Weg unerwartet auf einer Lichtung endete. Ohne den Schutz der Bäume traf sie die Wucht des Unwetters mit unverminderter Kraft, doch gleichzeitig entdeckten sie etwas, das wieder Hoffnung in ihnen aufkeimen ließ.
"Ein Haus", jubelten sie erleichtert und rannten auch schon los.
Aus der Nähe betrachtet erwies sich die verheißungsvolle Zuflucht allerdings als weniger einladend. Vielleicht war das alte Gemäuer früher einmal ein solides Gebäude gewesen, jetzt aber wirkte es baufällig, verwahrlost und unbewohnt.
Mit vereinten Kräften öffneten sie die morsche Eingangstür und traten ein. Enttäuscht mussten sie feststellen, dass der große Raum, in dem sie sich wiederfanden, vollkommen leer war, ebenso wie die beiden angrenzenden kleineren Zimmer. Im spärlichen Dämmerlicht entdeckten sie Spinnweben, kleine Insekten und anderes lichtscheues Getier - doch das war auch schon alles. Der einzige Hinweis darauf, dass dieses Haus früher tatsächlich einmal bewohnt gewesen sein musste, war ein riesiger, rußgeschwärzter Kamin in einer Ecke des großen Zimmers. Ein verschnörkelter Kerzenständer prangte auf seinem staubigen Sims und mehrere Holzscheite stapelten sich auf dem Boden daneben.
"Nicht gerade einladend", beklagte sich Babs mit klappernden Zähnen. "Vielleicht können wir ja wenigstens ein Feuer machen. Mir ist scheußlich kalt."
"Das wäre doch die geeignete Aufgabe für unseren allwissenden Professor", lästerte Mike und grinste Chris dabei breit an - seine ganz persönliche Art der Versöhnung.
"Babs, wir beide untersuchen inzwischen mal den Dachboden. Vielleicht finden wir ja doch noch etwas Brauchbares in diesem Schuppen."
Die morschen Stufen der altersschwachen Treppe knarrten bedenklich, als Mike und Babs den Weg zum Dachgestühl antraten. Voller Hoffnung öffneten sie die einzige Tür, die sie entdecken konnten. Modrige Luft schlug ihnen entgegen, der Mief vergangener Jahrzehnte in vollkommener Abgeschiedenheit. Doch was auch immer sich darin verbarg - es lag im Dunkeln.
"Ziemlich finster", flüsterte Babs beklommen.
"Warte", antwortete Mike, rannte nach unten und kam Augenblicke später mit dem alten Kaminleuchter zurück. Mit Hilfe seines Feuerzeugs entzündete er die fünf Kerzenstummel, die noch darin steckten. In ihrem flackernden Licht tasteten sich Mike und Babs in die Finsternis vor.
Überrascht stellten sie fest, dass, entgegen dem Rest des Hauses, dieser Raum alles andere als leer war. Sie entdeckten altertümliche Möbel, die unter ihrem eigenen Gewicht zusammenzubrechen drohten, und fleckige Gemälde in protzigen Rahmen, aus denen ihnen blasse Gesichter grimmig entgegenblickten. Zerschlissene Koffer türmten sich neben einer wilden Ansammlung von Haushaltsgegenständen, deren einstiger Zweck sich nur noch erahnen ließ. Eine dünne Staubschicht lag über allem, die aufwirbelte, sobald die Eindringlinge etwas berührten. Spinnweben durchzogen große Teile des Raumes und immer wieder mussten sie sich die klebrigen Fäden mühsam aus Gesicht und Haaren wischen.
"Wahnsinn! Das sieht aus wie auf einer vorsintflutlichen Müllkippe", staunte Mike.
"Von wegen Müll", widersprach Babs. "Die Sachen sind zwar total verdreckt, aber einige davon scheinen ziemlich wertvoll zu sein."
Beherzt wischte sie mit ihrer Hand die dicke Staubschicht von einer schweren Holzkiste. "Siehst du die herrliche Schnitzarbeit? Teilweise scheint sie sogar mit Gold überzogen zu sein. Was wohl in der Truhe ist?"
Wider Erwarten ließ sich der Deckel problemlos öffnen. "Kleider", rief Babs überrascht und zog ein rüschenverziertes Brokatgewand hervor. "Und Anzüge!" Begeistert holte sie ein Stück nach dem anderen aus der Vergessenheit und breitete es vorsichtig über Kisten und Möbel.
"Ist ja super", maulte Mike enttäuscht. "Klamotten ...! Wer braucht schon so was! Ein echter Schatz wäre mir eindeutig lieber gewesen. Oder wenigstens was zum Mampfen."
Als sie das letzte Kleidungsstück hervorgekramt hatte, stutzte Babs. "Da ist noch etwas!" Das Kerzenlicht brach sich glitzernd in zwei Gegenständen, die auf dem Boden der Truhe lagen. Neugierig beugte Mike sich nach unten und hielt sie kurz darauf in seinen Händen.
"Wow!" Diesmal schien auch er beeindruckt. Bei dem einen der beiden Fundstücke handelte es sich um einen goldenen Handspiegel, dessen verschnörkelter Rahmen mit 12 grünen Edelsteinen verziert war, bei dem anderen um eine alte goldene Taschenuhr.
Ein leichter Wind kam auf, der das Gebälk des Dachstuhls ächzen ließ, und wie ein kalter Hauch über die erhitzten Gesichter der beiden Freunde strich. Irgendwo musste wohl ein Loch sein, durch das der Wind von draußen eindringen konnte. Mike legte den Spiegel neben sich auf den Boden und versuchte vorsichtig die Uhr zu öffnen.
"Nein! Lass das!"
Ein dünnes Stimmchen wehte zu den Freunden herüber. Verdutzt sahen sie sich an. "Der Wind", murmelte Mike achselzuckend und setzte unbeirrt sein Vorhaben fort. Wieder meinte er ein leises "Nein" zu hören und wieder ignorierte er es. Dann, als er schon beinahe aufgeben wollte, sprang der Deckel der Taschenuhr mit einem leisen 'Pling' auf - und genau in diesem Moment brach das Chaos los.
Ohne Vorwarnung schwoll der bisher leichte Windzug zu einem tobenden Orkan an. Die Tür schlug mit einem ohrenbetäubenden Knall zu. Kreischendes Gelächter erfüllte den Raum. Zutiefst erschrocken zuckte Mike zusammen. Die Uhr entglitt seinen Händen und fiel scheppernd auf den Boden.
Der Aufprall war so heftig, dass die kleinen schwarzen Ziffern aus ihrer Verankerung herausbrachen und über den staubigen Boden kullerten. Gleichzeitig fingen die beiden Zeiger an, wie zwei wildgewordene Kreisel über das verwaiste Zifferblatt zu rasen. Das fürchterliche Gekreische steigerte sich ins Unerträgliche. Die Kerzen flackerten ein letztes mal auf und erloschen. Dunkelheit machte sich breit.
Voller Panik rannten Mike und Babs los. Vorbei an Truhen und Kisten, raus aus diesem unheimlichen Raum, hinunter über die morsche Treppe, weiter und immer weiter, bis sie sich endlich im kahlen Kaminzimmer wiederfanden.
In dem trügerischen Glauben, nun in Sicherheit zu sein, standen sie zitternd beieinander. Erst nach und nach erkannten sie ihren Irrtum. Was war hier geschehen? Fassungslos blickten sie auf eine Ratte, die auf der Flucht zu ihrem Unterschlupf erstarrt war, auf Fliegen, die wie leblose schwarze Punkte in der Luft hingen, und auf ihren Freund Chris, der, in eigenartig gekrümmter Haltung erstarrt, vor dem Kamin kauerte. Offensichtlich war es ihm noch gelungen ein Feuer zu entfachen, doch von den lodernden Flammen war nichts übrig geblieben als ein bizarres Geflecht rötlicher Zacken.
Benommen taumelten Babs und Mike zur Tür und traten ins Freie. Aber selbst dieser letzte wage Hoffnungsschimmer zerplatzte wie eine Seifenblase. Auch hier kein Geräusch, keine Bewegung, nicht das geringste Zeichen von Leben. Absolut nichts. Selbst die Regentropfen waren in diesem unheimliche Zauber gefangen und hingen als glitzernde Perlen einfach in der Luft.
"Ich glaub, ich bin im falschen Film", stotterte Mike. "Meinst du, das hängt mit dieser blöden Taschenuhr zusammen, die ich aus Versehen geschrottet ..."
"Sieh mal, unsere Armbanduhren gehen auch nicht mehr!", unterbrach ihn Babs aufgeregt. "Absolut alles steht plötzlich still. Als gäbe es keine Zeit mehr. Als hätten wir die irgendwie ... verloren."
"Die Zeit verloren? So ein Quatsch", maulte Mike verdrossen. "Wie kann man denn die Zeit verlieren? Das ist unmöglich."
"Das alles hier ist unmöglich", entgegnete Babs. "Und doch findet es statt. Wir haben ungewollt dieses fürchterliche Chaos ausgelöst, jetzt müssen wir versuchen es wieder rückgängig zu machen."
Mit flauem Gefühl kehrten Mike und Babs zu dem unheimlichen Ort zurück, an dem das Übel seinen Anfang genommen hatte. Im Schein der neuentflammten Kerzen sahen sie, dass die kleinen Ziffern noch immer verstreut auf dem Boden lagen. Als die beiden jedoch beginnen wollten sie einzusammeln, stoben diese plötzlich auf und verharrten in sicherer Entfernung vibrierend in der Luft. Gleichzeitig richtete sich der goldene Handspiegel senkrecht auf und fing an zu wachsen. Wurde größer und größer, bis er die beiden Freunde um ein gutes Stück überragte und sie ihre ängstlichen Gesichter in seinem klaren Spiegelbild erkennen konnten. Wie von Geisterhand gelenkt setzten sich die schwebenden Ziffern in Bewegung, flogen auf den Spiegel zu und durchdrangen nacheinander die schillernde Fläche.
"Na toll. Was machen wir jetzt?", fragte Mike ratlos.
"Ihr müsst die Ziffern zurückholen und die Uhr reparieren." Da war wieder dieses geheimnisvolle Wispern, das sie schon einmal gehört und ignoriert hatten. "Beeilt euch! Hinter dem Spiegel liegen zwölf Welten und in jeder werdet ihr eine der verlorenen Ziffern finden."
"Aber wie können wir in diese Welten gelangen?", fragte Babs irritiert.
"Seht ihr die grünen Steine im Rahmen des Spiegels? Sie sind mit den Zahlen eins bis zwölf gekennzeichnet. Wenn ihr einen der Steine berührt, gelangt ihr in seine Welt und könnt dort nach der entsprechenden Ziffer suchen!"
Ängstlich traten Mike und Babs an den Spiegel. Sie misstrauten diesem unsichtbaren Wesen. Aber hatten sie eine andere Wahl als seinem Rat zu folgen? Als die beiden den Stein Nummer 1 berührten erwachte er flackernd zum Leben und überzog ihre Hände mit einem giftiggrünen Schimmer. Ein letztes mal hörten sie die drängende Wisperstimme: "Passt auf, es könnte gefährlich werden ...", dann erfasste sie ein magischer Sog und riss sie mit sich fort.
Hilflos wirbelten Mike und Babs durch einen schwarzen Tunnel voller zuckender grüner Blitze. Als sie endlich wieder festen Boden unter ihre Füßen fühlten, waren sie unendlich erleichtert. Doch als sich ihre Augen an die ungewohnte Helligkeit gewöhnt hatten, die sie hier umgab, und sie erkannten, wo sie gelandet waren, verschwand diese Erleichterung mit einem Schlag ...

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