Die verlorene Zeit

1. Fortsetzung von Maximilian
... denn sie standen im Mittelpunkt eines düsteren Waldes. Mächtige Bäume, Zeugen längst vergangener Tage, trugen prächtige Früchte in leuchtenden Farben. Seltene Schlingpflanzen überwucherten die knorrigen Bäume und bildeten ein beinahe undurchdringliches Gestrüpp.
Von Ast zu Ast schwangen sich merkwürdige affenähnliche Geschöpfe. Aus der Ferne drangen unheimliche Laute an Mikes und Babs' Ohr. Mühsam bahnten sich die beiden mit Mikes neuem Taschenmesser, dessen Klinge silbern im spärlichen Sonnenlicht funkelte, einen Weg durch das immer nachwachsende Gestrüpp. Schweigend kämpften sie sich Schritt um Schritt voran.
Nach einer Weile richtete Mike seinen finsteren Blick auf Babs und keuchte: "An dem ganzen Schlamassel bist nur du und Chris Schuld!"
"Das ändert jetzt auch nichts mehr. Wir müssen nun zusammenhalten und die möglichen Gefahren bewältigen, um die Ziffern zu finden", erwiderte Babs ruhig.
"Du hast ja Recht", murrte Mike kleinlaut.
Doch plötzlich stürzte ein riesiges Ungeheuer aus dem Dickicht hervor. Es fletschte seine fürchterlichen Zähne und seine feuerroten Augen leuchteten angriffslustig. Die mächtigen Beine schwebten knapp über dem lehmigen Waldboden. Ohne zu überlegen ergriffen Mike und Babs die Flucht. Sie hetzten quer durch den riesigen Wald. Die furchtbare Bestie war ihnen dicht auf den Fersen. Als sie Mike und Babs schon fast erreicht hatte, gelangten sie an einen reißenden Strom.
Mike schrie: "Jetzt ist es aus!"
Doch zum Glück erblickten sie stromaufwärts ein kleines baufälliges Boot. Mit letzter Kraft retteten sie sich ins Boot. Erschöpft verloren sie in den rauschenden Wellen das Bewusstsein.
Als Mike und Babs wieder zu sich kamen, fanden sie sich in einer dunklen, feuchten Grotte am Flussrand wieder. Plötzlich hörten sie eine krächzende Stimme:
"Ich habe nun die Ziffer eins,
sie ist meins, sie ist meins.
Wenn ich den Zeitkristall befrag,
ob ich sie zu vermehren mag,
ist er still,
weil er's mir nicht sagen will."
"Dieses Wesen muss die Ziffer 1 besitzen", flüsterte Mike. "Aber wie sollen wir an sie gelangen?"
"Uah! Wer ist da?", kreischte das Geschöpf.
"Lass mich nur machen", tuschelte Babs Mike zu. Babs richtete sich auf. Da erblickte sie ein kleines, braunes Wesen mit kurzen grünen Stoppelhaaren und winzigen schwarzen Augen. Babs sprach in ernstem Ton: "Wir sind Zauberer einer fernen Welt und auserwählt, dir zu helfen die Ziffer 1 der geheimnisvollen Uhr zu vervielfachen. Deine Aufgabe ist es, die Ziffer 1 bei Vollmond 50 Schritte entfernt von deiner Grotte unter den Zeitkristall zu legen. Aber du wartest hier in der dunkelsten Ecke deiner Grotte und frühestens in der Morgendämmerung holst du die Ziffer 1 und den Zeitkristall ab! Wir überwachen die Vermehrung."
"Das ist ja toll, toll, toll! Vollmond ist heute. Ihr müsst aufpassen! Ihr müsst aufpassen! Ich bekomm Ziffern, ich, der Zeitgnom", sang er vergnügt, während er zwischen Mike und Babs hindurch wuselte. Nach kurzer Zeit kam er wieder in die Höhle.
"Alles ist bereit, alles ist bereit", krächzte er fröhlich und verzog sich tatsächlich in die dunkelste Ecke der Höhle.
Sofort rannten Mike und Babs los. Sie fanden den Zeitkristall und die Ziffer 1 der geheimnisvollen Uhr sogleich. Babs nahm beides an sich.
Da ergriff die beiden ein gewaltiger Sog und plötzlich standen sie wieder auf dem Dachboden des alten baufälligen Hauses ihrer Welt. Unverzüglich setzte Babs die 1 in die geheimnisvolle Uhr ein. Danach rannte sie ins Erdgeschoss hinab und berührten den noch immer starr am Kamin sitzenden Chris mit dem durchsichtig schimmernden Zeitkristall.

Überleitung von Astrid Nagel :

Voller Hoffnung blickte sie in das verzerrte Gesicht ihres Freundes - doch nichts geschah. Enttäuscht kehrte Babs auf den Dachboden zurück. "Keine Ahnung, wozu der gut sein soll", wandte sie sich achselzuckend an Mike und legte den Zeitkristall achtlos auf einen verstaubten Sessel. "Vielleicht ..."
"Hör mal", unterbrach Mike sie aufgeregt. "Da ist wieder dieses komische Geräusch."
"Stimmt", flüsterte Babs. "Aber diesmal klingt es irgendwie anders. Als ob jemand weinen würde."
Auf Zehenspitzen folgten die Freunde dem leisen Wimmern und landeten schließlich vor einem der alten Kleiderschränke. Mike nahm all seinen Mut zusammen und öffnete mit einem herzhaften Ruck die morschen Schranktüren. Ein Schwarm Motten stob auf und umwirbelte für einen kurzen Moment die erschrockenen Kinder. Das Schluchzen erstarb. Mit zitternden Fingern hielt Babs den Leuchter in den geöffneten Schrank - und tatsächlich: hinter all den angefressenen, muffigen Kleidungsstücken hockte etwas.
Es war ein kleines, durchscheinendes Wesen, das ihnen mit großen schwarzen Augen ängstlich entgegen sah und vergeblich versuchte, sich in der Tiefe des Schrankes zu verstecken. Als es jedoch die Ausweglosigkeit seiner Situation erkannte, verließ es mit einem trotzigen Ausdruck in den verweinten Augen seinen Unterschlupf, schwebte auf die beiden Menschen zu und baute sich forsch vor ihnen auf.
"Ihr seid Schuld, an diesem ganzen Chaos", zischte es wütend und fuchtelte mit seinen durchscheinenden Fingern aufgebracht durch die Luft. "Ich habe euch gewarnt, aber ihr wolltet ja nicht hören. Jetzt haben wir den Salat."
"Aber wir wollen doch den Schaden wieder beheben", versuchte Babs den kleinen Geist zu beschwichtigen. "Durch deinen Ratschlag haben wir bereits die erste Ziffer gefunden. Wenn du uns weiterhin hilfst, schaffen wir es sicher ..."
"Den Teufel werd ich tun", unterbrach sie der kleine Geist empört. "Auf mein Wissen müsst ihr zukünftig verzichten. Während ihr in der ersten Welt herumspaziert seid, kam nämlich dieser gemeine Zeitengeist zurück. Aus Wut darüber, dass ich euch geholfen habe, hat er mir meinen wertvollsten Besitz gestohlen. Meinen einzigen Besitz." Ein paar glitzernde Tränen kullerten über seine bleichen Wangen.
"Was hat er dir denn gestohlen", fragte Babs voller Mitgefühl.
"Meinen Namen", hauchte das kleine Gespenst und als es die erstaunten Gesichter der Kinder sah, fuhr es erklärend fort: "Ihr müsst wissen, dass nur wenige aus meiner Zunft einen Namen besitzen - und meiner war besonders schön. Aber dieser Schreckliche hat mir zur Strafe einfach die Erinnerung daran gestohlen."
"Dann leg dir halt einen anderen zu", schlug Mike ungeduldig vor. "Wie wär's mit Superman oder Rumpelstilzchen. Such dir einfach einen coolen aus."
"Ich will meinen Namen", beharrte der Kleine trotzig. "Ohne meinen Namen bin ich ein Nichts."
"Wenn wir es schaffen, deinen Namen herauszufinden", fragte Babs zaghaft, "würdest du uns dann wieder helfen?"
"Hm, darüber ließe sich reden", lenkte der kleine Geist ein. "Also passt auf: In der zweiten Welt befindet sich eine alte Burgruine. Das ist der Stammsitz meiner Familie. Ich bin vor Jahren schon dort ausgezogen, weil es unter meinen Verwandten leider ein paar wirklich miese Typen gibt. Aber einer von ihnen wird sich sicher an mich und meinen Namen erinnern. Versucht euer Glück. Bringt die Ziffer zwei und meinen Namen - dann helfe ich euch weiter."
Voll ängstlicher Erwartung traten Mike und Babs vor den magischen Spiegel, berührten den mit ‚2' gekennzeichneten Stein und wurden erneut durch einen schwarzen Kanal voller grüner Blitze geschleudert. Sie landeten vor einer uralten, verfallenen Burgruine, hörten ein schreckliches Stöhnen und ahnten im selben Augenblick, dass diese Aufgabe wieder alles andere als leicht werden würde ...





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