3. Fortsetzung von  Philipp Trautwein

So etwas faszinierend Schönes hatten sie nicht erwartet. Vor ihnen war ein riesiger Wald - schön wie in einem Märchen. Es wuchsen rote Früchte, bunte Pflanzen, saftige Beeren, da waren Tiere, die friedlich miteinander spielten und die Vögel zwitscherten ihre Einladung, weiter in den Wald hineinzugehen.
Mutig bahnten Tamara und Nik sich einen Weg immer tiefer in den Wald hinein. Plötzlich stand, wie aus dem Himmel gefallen, ein riesengroßes Hexenhaus vor ihnen. Es war aus puren Lebkuchen, Weihnachtsgebäck, Brezeln und anderen leckeren Sachen. Den Kindern lief das Wasser im Munde zusammen und ihre Mägen knurrten erbärmlich. Da schrie auch schon eine hässliche, knarrige Stimme aus dem Haus:
"Wer knurrt so laut vor meinem Turm,
den verwandle ich mit meinem Zaubertrank Abraka-wurm!"
Ängstlich kauerten sich Tamara und Nik auf den Boden und warteten zitternd, was passieren würde. Eine alte Hexe mit zerzausten Haaren und einer fetten Warze auf der Nase öffnete ein Fenster.
"Was wollt ihr hier in meinem Revier,
wollt ihr etwas von meinem Zaubertrank Abraka-tier?"
Ihr einziger Zahn schillerte giftgrün, als sie die Drohung aussprach.
"B-b-b-b-b-bbitte tun Sie uns nichts. W-w-w-w-w-wwir sind nicht freiwillig hier, der alte Zipfelmützenmann schickt uns", stammelten die beiden Kinder.
"Ach der, dann glaubt nicht, dass ich lange fackel,
der ist nur scharf auf meinen Zaubertrank Abraka-dackel."
"Nein, nein, nein", flehten die Kinder, "bitte glauben Sie uns, wir wollen nur den Schlüssel, um unser eigenes Leben zu retten." Von den Tränen, die über Tamaras Gesicht kullerten, doch etwas betroffen, lenkte die Hexe ein:
"Also gut: das Geheimnis des Schlüssels liegt in diesem Haus,
es ist leider verzaubert mit meinem Zaubertrank Abraka-maus."
Mit diesen Worten verschwand die Hexe am Fenster.
"Wir müssen in dieses Haus eindringen - der Schlüssel ist darin versteckt." Tamara und Nik nahmen alle ihre Kräfte zusammen und stemmten sich gegen die Eingangstür. Aber nichts bewegte sich. Die Lebkuchen waren wohl steinalt.
"Das schaffen wir nie, wir sind zu schwach dafür!" Erschöpft ließen sich Nik und Tamara auf dem Boden nieder und nagten in ihrer Verzweiflung auf den eisenharten Lebkuchen herum. Sie waren müde, hungrig, und all ihre Hoffnung, hier jemals wieder lebend herauszukommen, war wie eine Seifenblase im Wind zerplatzt. Nik und Tamara hatten nicht bemerkt, dass die Hexe ihren fast ekelerregenden Zinken wieder zum Fenster herausstreckte.
"Was muss ich da sehen! Ihr steckt die Lebkuchen in euren Rachen,
dann serviere ich euch gleich den Zaubertrank Abraka-drachen!"
Jetzt war wohl eh schon alles verloren. Nik nahm noch einmal allen Mut zusammen, um die Hexe umzustimmen: "Hey, du Hexe aller Hexen. Dies sind die besten Lebkuchen, die ich je gegessen habe. Die Dinger schmecken echt gut, probier doch mal."
Mit diesen Worten streckte er der Hexe das härteste Stück hin, das er finden konnte. Die Hexe biss in voller Gier hinein. In diesem Moment stürzte sie mit lautem Geschrei zu Boden. Ihr einziger Giftzahn, der ihr alle Macht gegeben hatte, steckte in dem harten Lebkuchen. Sie sackte leblos in sich zusammen und ihr Körper zerbröckelte in viele kleine Krümel.
In Windeseile krackselten Nik und Tamara in die kleine Fensteröffnung hinein. Sie schauten sich um. Wo war nur der Schlüssel und der Zaubertrank versteckt? Hatte die verrückte Hexe nicht gesagt, dass das Haus mit dem Zaubertrank Abraka-maus verzaubert sei? Abraka-maus, Abraka-maus - was könnte das nur bedeuten? Da entdeckten sie es - an ihren Füßen war in der Wand ein kleines Mauseloch. Vorsichtig griffen sie hinein. Tatsächlich! Sowohl der Schlüssel, als auch der Zaubertrank Abraka-dackel waren darin versteckt. Jetzt nichts wie weg hier, bevor die Stunde abgelaufen war.
Sie rannten so schnell sie konnten zurück durch den Märchenwald, der ihnen jetzt noch tausendmal schöner vorkam, bis hin zur Türe ...
Als die Kinder in die Eingangshalle zurückkehrten, erwartete sie der Zipfelmützenmann bereits voller Ungeduld.
"Und?", fragte er aufgeregt. "Habt ihr den Zaubertrank gefunden?" Während Nik zum Tor eilte, um nach dem passenden Schloss für den dritten Schüssel zu suchen, hielt Tamara dem Alten triumphierend eine kleine Flasche entgegen.
"Hier ist er! Was sollen wir jetzt damit machen?"
"Schnell, träufle einen Tropfen davon auf Bruno", drängte der Zipfelmützenmann und streckte Tamara seine Hand entgegen. Nik, der endlich das passende Schloss gefunden hatte, gesellte sich zu ihnen. Erwartungsvoll beobachteten die drei, wie ein gelber Tropfen langsam auf den kleinen grünen Wurm fiel - doch nichts passierte.
"Seid ihr auch ganz sicher, dass dies der richtige Zaubertrank ist?", fragte der Zipfelmützenmann misstrauisch. "Es war der einzige, den wir finden konnten", entgegnete Nik. "Es muss der richtige sein. Aber vielleicht benötigen wir ja zusätzlich einen der komischen Sprüche, die diese Hexe immer gefaselt hat. Hörte sich an wie Abrakadabra oder so ähnlich."
"Nicht Abrakadabra, sondern Abraka-irgendwas", verbesserte ihn Tamara und ließ gleichzeitig einen weiteren Tropfen des Zaubertranks auf den Wurm fallen. Kurz bevor er sein Ziel traf, rief sie hastig: "Abraka-dackel!" Ein Zittern durchlief plötzlich den grünen Winzling. Er streckte und wand sich, wurde größer und nahm nach und nach wieder seine alte Gestalt an. Und noch bevor der Zipfelmützenmann richtig begriff, was vor sich ging, hielt er auch schon seinen heißgeliebten Hund in den Armen.
Nachdem Bruno ihm zur Begrüßung stürmisch das Gesicht abgeschleckt hatte, sprang er auf den Boden und umtobte mit wedelndem Schwanz ausgelassen die beiden fremden Besucher.
"Nun, Bruno scheint euch ganz offensichtlich zu vertrauen. Dann will auch ich es tun und euch, wie versprochen, in mein Wissen einweihen", entschied der überglückliche Alte. "Also hört gut zu: kein Mensch ist in der Lage, es mit diesem schrecklichen Gespenst aufzunehmen. Und doch gibt es etwas, vor dem sich selbst dieses unbarmherzige Monster fürchtet. Es ist ..."
Der Alte sah sich ängstlich um, bevor er flüsternd fortfuhr: "Es ist ein Buch! Leider kenne ich seinen Titel nicht, das müsstet ihr schon selbst herausfinden, aber es beschreibt ganz genau, wie man einen Dämon vertreiben kann."
Das dumpfe Schlagen der Uhr dröhnte plötzlich durch die Stille der Halle und die drei Verschwörer zuckten erschreckt zusammen. Wieder war eine Stunde vergangen! Sie mussten sich beeilen!
"Wo finden wir dieses Buch?", drängte Nik ungeduldig.
"Bevor der Schreckliche sich hier eingenistet hat, lebte er im Kreise seiner Familie in einem alten, verfallenen Schloss. Dort ist auch das Buch versteckt. Um zu verhindern, dass es jemals in unbefugte Hände gerät, wird es streng bewacht und es dürfte gefährlich sein, es zu stehlen. Aber es ist unsere einzige Chance. Habt ihr genug Mut, euch mit diesen Gespenstern anzulegen?"
Nik und Tamara verständigten sich mit einem kurzen Blick. Hatten sie denn eine andere Wahl? Mit weichen Knien öffneten sie die Tür, die der Alte ihnen zeigte, und traten in die Dunkelheit, die sie dahinter empfing. Im blassen Mondlicht erkannten sie schwach einen schmalen Pfad, der zu einem gewaltigen Schloss führte, das sich drohend in der Ferne auftürmte. Ganz leise hörten sie noch, wie der Alte ihnen eine letzte Mahnung nachrief: "Vergesst nicht, nach dem Schlüssel zu suchen!", dann machten sie sich auf den Weg ins Ungewisse ...




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