12. Fortsetzung von Larissa Weidler |
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Nik und Tamara sahen sich in dem merkwürdigen Klassenzimmer um. Der ganze Raum war gefüllt mit Instrumenten. "Kann es sein, dass wir hier in einer Musikschule sind?", fragte Tamara. Sie ging zu einer Gitarre, deren Saiten vor Aufregung zitterten. Zu Nik sagte sie: "Das ist doch eindeutig eine Gitarre!" |
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Augenblicklich hörten die beiden ein Räuspern und leichtes Klopfen auf Holz. Sie drehten sich um und sahen hinter einem Pult schwebend einen Dirigentenstab. Er sagte zu ihnen: "Was suchen die erlauchten Herrschaften denn hier?" Tamara hielt dem kichernden Nik den Mund zu und antwortete: "Einen klugen Kopf!" "Haben wir ausreichend", schnarrte der Dirigentenstab. "Ihr müsst euch bloß einen aussuchen." |
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Sofort ließ eine Geige Zupftöne hören: "Nehmt mich, nehmt mich!" "Nein, nehmt mich!" "Nein, mich!" |
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"RUHE! Seid doch mal still!", brüllte der Dirigentenstab. Offenbar handelte es sich hierbei um den Lehrer. "Die edlen Gäste möchten sicher selber wählen." Schlagartig wurde es still im Klassenzimmer. Tief seufzend wandte er sich zu Nik und Tamara um. "Tja, wer die Wahl hat, hat die Qual. In euerer Haut möchte ich jetzt nicht stecken.", war der Kommentar des Lehrers. Verwirrt sahen sich Nik und Tamara an und fragten: "Wieso denn nicht?" "Weil in dieser Klasse lauter kluge, schlagfertige Köpfe sind." Für Nik war dies das Stichwort. "Genau! Schlagfertig ist genial. Wie wäre es, wenn wir das Schlagzeug nehmen würden?" "Gute Idee", erwiderte Tamara. Sie rief: "He, du da hinten! Bitte komm doch mal her." |
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Zitternd stand ein kleines Schlagzeug auf und lief etwas unsicher nach vorne. "Wie heißt du denn?", fragte Tamara. "Soundy", erwiderte das Schlagzeug nach kurzem Zögern und ließ einen kleinen Trommelwirbel hören. "Soundy ist einer meiner besten Schüler", bemerkte der Dirigentenstab. "Braucht ihr sonst noch etwas?" |
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"Ja", antwortete Nik. "Einen Schlüssel." "Oh, ich glaube, da habt ihr ein Problem. Wir haben nämlich im ganzen Klassenzimmer keinen einzigen Schlüssel." "Aber natürlich haben wir einen", erwiderte Soundy gewitzt. "Was für einen?", erkundigte sich Nik und runzelte angestrengt seine Stirn. "Ganz einfach, einen Notenschlüssel!" Tamara lachte und freute sich über ihren Geistesblitz. "Natürlich, das ist die Lösung", sagte der Dirigentenstab bewundernd. Plötzlich hielt Nik einen Notenschlüssel in der Hand. Sofort sprang aus dem Klangkörper eines jedes Musikinstruments ein Ton. Eine lockende, einschmeichelnde Melodie erklang und erfüllte zuerst den ganzen Raum. Dann hatten die Kinder das Gefühl, dass die Musik immer mehr auf sie zukam. "Nehmt die Melodie mit. Sie folgt immer dem Notenschlüssel, egal wohin er geht", meinte Soundy bestimmt. Gesagt, getan - Tamara und Nik verabschiedeten sich von ihren neuen Freunden ganz freundlich, mit der Melodie als Begleiter. Draußen erwartete sie schon freudig blätternd das schlaue Buch. "Locke schnell die Melodie in den Kessel, weil die Dämonen sicher bald kommen. Dann können wir nur hoffen, dass sie von der Melodie in den Kessel gelockt werden und sich dort auflösen", sagte Tamara mit zitternder Stimme. |
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Im gleichen Augenblick ertönten die ersten dumpfen Glockenschläge. Eins - zwei - drei - vier. Schaudernd erinnerten sie Nik daran, wie alles begonnen hatte: an das Tor, das plötzlich zugefallen war und seine Flucht verhindert hatte, an den grausigen Dämon, der ihn so maßlos erschreckt hatte und an seine Drohungen: "Wenn du das Tor nicht geöffnet hast bevor die Glocke zwölf mal geschlagen hat, wirst du dazu verdammt sein auf immer hier zu bleiben, als Kreatur der Nacht." Der fünfte Glockenton riss Nik aus seinen Grübeleien - und die Stimme von Tamara. "Worauf wartest du?", drängte sie ungeduldig. "Tu endlich was!" Der sechste Glockenton dröhnte durch die Halle. Leises Stöhnen und Heulen folgte ihm, das schnell lauter wurde. Etwas näherte sich. Voller Panik rannte Nik zum Tor. Er wollte keine Kreatur der Nacht werden. Er wollte nichts wie raus hier. Zurück in die Freiheit. Fort von all diesen Schrecken. |
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Während der siebte und achte Glockenton verhallte, versuchte er fieberhaft mit dem Notenschlüssel das letzte der zwölf Schlösser zu öffnen. Die Melodie, die ihm gefolgt war, umschwirrte dabei aufgeregt seine zitternde Hand. | |
"Nik, was ist los mit dir", hörte er Tamara rufen. Der neunte Glockenton erklang. Hastig drehte Nik sich zu seiner Freundin um. "Komm schon. Wir haben alle Schlüssel. Lass uns von hier verschwinden bevor es zu spät ist." "Aber wir können doch nicht einfach gehen und die beiden im Stich lassen!", empörte sich Tamara und deutete auf die versteinerten Gestalten. "Der Zipfelmützenmann hat uns geholfen und wir haben versprochen, dafür den Fluch von seinem Haus zu nehmen!" Der zehnte Glockenton verhallte. Niks Blick wanderte von Tamara zum Zipfelmützenmann und seinem kleinen Hund. Tamara hatte Recht. Wenn er jetzt gehen würde, wäre das Schicksal der beiden besiegelt. Beim elften Glockenton hatte Nik seine Entscheidung gefällt. Mit einem tiefen Seufzer wandte er sich wieder vom Tor ab und rannte zum Kessel. Wie zuvor folgte ihm die Melodie und als er den Notenschlüssel in den stinkenden Dämonenvertreibungstrank warf, folgte sie mit einem leisen protestierenden Missklang auch dorthin. Die Gewalt des zwölften Glockentons ließ die Halle erzittern. Im selben Augenblick spürten Nik und Tamara, dass sie nicht mehr allein waren. Ängstlich blickten sie den wabernden Gestalten entgegen, die sich ihnen langsam näherten und mit ihrem heiseren Stöhnen die Luft erfüllten. Der grausige Dämon löste sich aus ihrer Mitte und schwebte auf die Freunde zu. "So, so", säuselte er und lächelte grausam. "Ihr habt es also nicht geschafft das Tor zu öffnen. Sehr schön. Dann wisst ihr ja, was euch nun blüht. Und diesmal wir euch kein Sturm zu Hilfe kommen." Mit einem teuflischen Grinsen hob er seine Arme in Richtung der beiden Gefangenen. Nik und Tamara fühlten, wie eine unheimliche Macht sie plötzlich in ihren Bann zog und lähmte. Doch gleichzeitig hörten sie ein leises Klingen, das aus dem Kessel zu ihnen herüber wehte. Der Dämon stutzte. Langsam ließ er seine Arme sinken und die Freunde fühlten, wie der Bann wieder von ihnen wich. Die Melodie wurde lauter. Einschmeichelnd. Drängend. Wie hypnotisiert starrte der Dämon in die Richtung, aus der die verlockenden Töne kamen, und schwebte schließlich, von ihrer magischen Kraft angezogen, zum Kessel. Willenlos folgten die übrigen Gruselgestalten ihm nach und noch bevor die Kinder begriffen, was da vor sich ging, stürzten sich die Geister nacheinander in die stinkende Brühe und lösten sich zischend darin auf. Das Stöhnen, das soeben noch den Raum erfüllt hatte, erstarb. Mit großen Augen sahen Nik und Tamara, wie sich im selben Augenblick die Welt um sie herum veränderte. Der Zipfelmützenmann erwachte wieder zum Leben und streckte sich genüsslich. Bruno kam freudig bellend auf sie zugerannt. Die kahlen Mauern der Eingangshalle füllten sich mit bunten Bildern, Möbel schwebten aus der Höhe herab und suchten ihren Platz, die 12 Türen verschwanden. Erleichtert erkannte Nik, dass dies alles nur eines bedeuten konnte: sie hatten es geschafft. Doch als er sich voller Freude an Tamara wenden wollte, geschah etwas Unerwartetes: ein Schwindel erfasste ihn, die Welt um ihn wurde dunkel und er fiel und fiel und fiel ... ... Stöhnend erwachte Nik. Jeder Knochen in seinem Leib schmerzte. Was war nur geschehen? Erstaunt sah er die dunklen Baumwipfel über sich und sein Fahrrad, das reichlich demoliert neben ihm lag. Natürlich. Er war gestürzt. Wahrscheinlich hatte er sich den Kopf angeschlagen und war danach ohnmächtig geworden. Das erklärte auch diese verrückte Sache mit dem Haus. Es war nur ein Traum gewesen. Ein bescheuerter Traum. So einen Schwachsinn gab es schließlich nicht in der wirklichen Welt. Er rappelte sich wieder vom nassen Boden auf, schnappte sich sein verbogenes Fahrrad und wollte gerade den Heimweg antreten, als er plötzlich ein leises Stöhnen hörte. Ein greller Blitz zuckte vom Himmel und sein schwefelgelbes Licht ließ für einen kurzen Augenblick schemenhafte Umrisse erkennen. Etwas bewegte sich im fahlen Licht. "Wer ist da?", rief Nik und spürte wie die Angst zu ihm zurückkehrte. "Hilf mir, ich bin mit meinem Fahrrad gestürzt und habe mir den Knöchel verstaucht", hörte er eine flehende Stimme. Dies konnte kein gefährlicher Geist sein, entschied Nik, und machte sich erleichtert auf die Suche. Schon kurze Zeit später fand er ein weiteres verbeultes Fahrrad und ein verletztes Mädchen, das daneben kauerte. "Du?", fragte Nik perplex. "Wie kommst du hierher, Tamara?" "Nik! Es gibt dich also wirklich! Und ich dachte, ich hätte das Ganze nur geträumt." Lachend umarmten sich die beiden Freunde und machten sich auf den Heimweg. Unterwegs erzählten sie von all den unglaublichen Abenteuern, die sie erlebt hatten, und wussten gleichzeitig, dass sie niemals mit anderen darüber würden sprechen können. Denn kein Mensch auf der ganzen Welt würde ihnen diese Geschichte jemals glauben. |
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